Objekt #93 / Arnold Schönberg: Formenlehre

1924

Arnold Schönberg Center, Wien

»Ich lese eben in einer Kritik über meine Georgelieder [Karl Storck: Geschichte der Musik], dass ich ›vor der Vergewaltigung des Natürlichen nicht zurückschrecke‹. Gemeint ist wohl, dass ichs nicht nötig habe, Banales, Konventionelles, Abgebrauchtes zu schreiben. Denn, dass man nach Obigem das Natürliche, das Material, die Töne, im Gegenteil unter allen Umständen vergewaltigen muss, dass man sie zwingen muss, eine von uns vorgeschriebene Richtung und Folge einzuhalten, leuchtet ein. Man muss das Natürliche, das Material, durch das Natürliche, unsere Denkart, zwingen, unserer Natur entsprechend natürlich zu wirken, sonst können wir es entweder nicht fassen oder es bleibt – wenn man die Töne so laufen lässt, wie sie wollen, Kinderspiel, ähnlich, wie die elektrischen Versuche mit Hollunderkügelchen oder das Rodeln und dergleichen. Jedes höher stehende Spiel entsteht dadurch, dass der natürliche Verlauf durch äusseren Zwang modificiert wird. So ist es beim Kegelspiel nicht bloss Aufgabe, eine Kugel zu schleudern, sondern es müssen Kegel getroffen werden und beim Billardspiel engen die Banden und zahlreiche mehr oder weniger willkürliche und künstliche Bedingungen natürliche die Absicht des Stosses so ein, dass ein sehr modificierter Zweck nur als Sinn und Erfolg desselben gelten kann. Eines der primitivsten Spiele das Würfeln, (primitiv, weil seine geistigen Bedingungen sehr einfach und ihre Anzahl sehr gering ist) begnügt sich damit, das Interesse an der Frage: welche Seite wird oben liegen, dadurch zu erhöhen, dass es den einzelnen Seiten verschiedene Werte giebt: Gewinnwerte, unseren niedrigsten Instinkten entsprechend! Ein künstlerischer Gedanke wird demnach, je höher er steht, ein desto grösseres Gebiet von Fragen, Komplexen, Asscociationen, Problemen, Gefühlen u. dgl. zu erfüllen haben und wird desto höherstehen, je mehr es gelingt diese Umfassendheit auf kleinsten Raum zusammenzupressen. Die weitere Darstellung des Gedankens wird nach denselben Gesetzen zwar verlaufen, aber sich je nach dem Hörer an den sie sich wendet einer populäreren oder strengeren Ausdrucks-, Darstellungs- und Entwicklungsweise bedienen. Man wird jedoch als die höchststehenden Formen diejenigen bezeichnen müssen, bei denen die Darstellung gedrängt und umfassend und erschöpfend, der Reichtum an aufgefundenen Beziehungen zum Gegenstand imponierend, die Beschränkung auf das Nötige konsequent und unerbittlich durchgeführt ist und dennoch die Darstellung den Geschmack bekundet, nicht schwerfasslicher zu sein, als es die Sachlage erfordert.«

Arnold Schönberg: Stile herrschen, Gedanken siegen

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